Ein Pläydoyer für Europas Kapitalmarkt
Konkrete Schritte in Berlin und Brüssel erforderlich

Sarah Schmidtke, Geschäftsführerin des Bankenverbandes Mitte, hat in der Sonderausgabe der Börsen-Zeitung vom 01. März 2023 einen Gastbeitrag über die Dringlichkeit einer europäischen Kapitalmarktunion und die Notwendigkeit klarer regulatorischer Rahmenbedingungen für Investitionen geschrieben.
Nie war die Kapitalmarktunion so wichtig und dringend wie heute: Die Ereignisse der vergangenen und insbesondere die Herausforderungen der kommenden Jahre zeigen deutlich, dass ein wettbewerbsfähiges Europa auf starke Banken und einen effizienten, europaweiten Kapitalmarkt angewiesen ist.
Zwar funktioniert die Finanzierung über Bankkredite und Kapitalmärkte innerhalb der Europäischen Union (EU) recht ordentlich, in Deutschland sogar ausgesprochen gut. Doch um die heutigen und zukünftigen Herausforderungen zu finanzieren, muss das vorhandene Potenzial sowohl der Kapitalgeber als auch der Kapitalnehmer viel stärker ausgeschöpft werden.
Beachtliche Investitionen
Es ist kein Geheimnis: Die anstehende Transformation der Wirtschaft macht gewaltige Investitionen erforderlich. Allein für Innovationen im Bereich Nachhaltigkeit sagt die EU-Kommission für die nächsten zehn Jahre ein europaweites Investitionsvolumen in Höhe von knapp 400 Mrd. Euro voraus – und zwar jährlich. Da zusätzlich noch Investitionen für die Digitalisierung der Wirtschaft und die Resilienz von Geschäftsmodellen anfallen, müssen enorme Summen mobilisiert werden.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang: Transformationsfinanzierung geht mit besonderen Herausforderungen einher; so haben wir es hier häufig mit großen Finanzierungsvolumina, einem längeren Finanzierungshorizont, einem anderen Risikoprofil und anderen Besicherungen zu tun. Ohne privates Kapital von europäischen und globalen Investoren sowie Privatanlegern aus der EU sind die in den kommenden Jahren benötigten Investitionen nicht finanzierbar. Wir brauchen daher ein funktionierendes Zusammenspiel von Bankkrediten, öffentlichen Mitteln und einem tiefen, effizienten Kapitalmarkt.
Besonders dringlich angesichts der veränderten weltpolitischen Lage ist die Notwendigkeit für Unternehmen, das eigene Geschäftsmodell durch Diversifizierung der Lieferketten, Absatzmärkte und Investoren widerstandsfähiger zu machen. In diesem Prozess befindet sich die EU im Wettbewerb mit den anderen Regionen der Welt – vor allem mit China und den USA. Schon heute werden über 90 % des globalen Wirtschaftswachstums außerhalb der EU erzeugt. Das zieht internationale Investoren an, deren zusätzliches ausländisches Kapital dann nicht in den europäischen Wirtschaftsraum fließt. Aus diesem Grund ist die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und unserer Finanzmärkte von besonderer Bedeutung.
Das Interesse dieser Investoren an Deutschland und anderen EU-Staaten ist zwar durchaus hoch. Um internationalen Kapitalgebern einen attraktiven Zugang zu ermöglichen, müssen jedoch wichtige Rahmenbedingungen weiter verbessert werden. Hierbei gilt das Prinzip: vereinfachen, nicht verkomplizieren. Also lieber eine prinzipiengesteuerte Rahmensetzung anstatt detailgenauer Vorgaben.
Dabei brauchen wir zum einen eine zielgerichtete Harmonisierung wichtiger Aspekte in bestimmten Rechtsbereichen, etwa im Steuer-, Insolvenz- oder Aufsichtsrecht. Zum anderen müssen die Interessen der Emittenten und der Anleger ausgewogen berücksichtigt werden. Das bedeutet vor allem, dass alle Emittenten vergleichbaren Vorgaben unterliegen und dass eine europaweit verlässliche Rechtsgrundlage für alle Marktteilnehmer besteht.
Diese Fortschritte sind nur mit der Unterstützung der EU-Mitgliedstaaten möglich. Es liegt nun an der Politik in Brüssel, wichtige Impulse zu setzen und zentrale Maßnahmen umzusetzen. Dazu zählen die Überarbeitung des Verbriefungsrahmenwerks, die Schaffung angemessener Rahmenbedingungen für das Clearing in der EU, eine sinnvolle Anpassung bestehender Kapitalmarktregeln (Mifir – Markets in Financial Instruments Regulation, CSDR – Central Securities Depositories Regulation), die gezielte Harmonisierung des Insolvenzrechts im Kapitalmarktbereich, aber auch die attraktive Ausgestaltung des EU-Green-Bond-Standards sowie der Erhalt des Zugangs für Kleinanleger zum Kapitalmarkt.
Praxistauglichkeit essenziell
Gerade mit Blick auf das aktuelle hochinflationäre Umfeld und die steigende Bedeutung der privaten Altersvorsorge benötigen Retail-Anleger eine qualitativ hochwertige Beratung. Ein Provisionsverbot, wie es aktuell in Europa diskutiert wird, würde die Beratung aber nicht erleichtern, sondern das Gegenteil davon erreichen und viele Privatanleger faktisch davon ausschließen. In der Folge bliebe dieser Teil des Privatkapitals dem Kapitalmarkt vorenthalten.
Wichtig bei der Überarbeitung der bestehenden Kapitalmarktregeln sind Praxistauglichkeit und Funktionalität des Marktes. Denn Geld fließt vor allem dorthin, wo es effizient eingesetzt werden kann.
Die gute Nachricht ist: Es herrscht mittlerweile ein viel breiteres Verständnis dafür, dass ein starker Kapitalmarkt sinnvoll und notwendig ist. Das erhoffte Wirtschaftswachstum für Europa und die geplanten Investitionen im Rahmen des Green Deal werden nur mit einem solchen starken europäischen Kapitalmarkt realisierbar sein.
Im November 2022 traten in Berlin der hessische Wirtschaftsminister, der hessische Finanzminister, der Präsident der Bundesbank und der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bank mit genau dieser Aussage vor die Kamera: Wir brauchen einen starken Kapitalmarkt und eine europäische Kapitalmarktunion! Ein wichtiges Signal, dass Politik und Wirtschaft hier an einem Strang ziehen.
Doch mit Blick auf die anstehenden Herausforderungen darf es nicht bei Worten bleiben. Erforderlich sind faire Kompromisse, schnelle Entscheidungen und vor allem konkrete Schritte in Berlin und Brüssel. Denn es steht fest: Ein wirklicher europäischer Kapitalmarkt, die europäische Kapitalmarktunion also, ist unabdingbar, um den anstehenden Herausforderungen gerecht zu werden. Und um die Grundlage unseres wirtschaftlichen Aufschwungs für die kommenden Jahre zu legen.
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